Die Drechsler

Um 1760 hatte nicht nur der Seiffener Bergbau einen erneuten Tiefpunkt erreicht, in dieser Zeit brachte der Kaufmann und Kunstdrechsler Hiemann so umfangreiche Aufträge von der Leipziger Messe mit nach Seiffen, dass dazu weder die Anzahl der Drechsler noch das vorrätige getrocknete Holz genügten. Ob Hiemann den Bergleuten, Glasmachern und anderen Personen das Drechseln lehrte, oder ob er etwa aus Nürnberg Drechsler als „Lehrmeister“ bestellte, ist nicht gewiss. Das Besondere dieser Drechsler war jedoch, dass sie nie einer Zunft angehörten und so freie Menschen waren.

Bergmeister Techelmann schrieb 1787: Die Bergleute zogen in Ermangelung des benötigten Unterhaltes ab und machten ihre vormaligen Nebenarbeit, welche im Holzdrechseln bestand, zu ihrem Hauptberuf und haben die Bergarbeit aufgegeben. Die Anzahl der Drechsler wuchs rasant. Im Jahr 1771 waren es 27, im Jahr 1800 110 und 1843 bereits 310 Drechsler allein im Seiffener Winkel. In der gesamten Grundherrschaft Purschenstein arbeiteten nun 504 Holzdrechsler. Ein guter Drechsler verdiente pro Woche 4 bis 5 Taler. Davon musste er zwar sein Holz bezahlen und die gesamte Familie musste mitarbeiten, aber ein Bergmann dagegen verdient lediglich 21 Groschen für 6 Schichten. Außerdem war die Arbeit leichter und angenehmer, als mit Schlegel und Eisen bei trübem Licht und Nässe vor Ort den Fels abzuschlagen. So gingen die Holzdrechsler nie wieder ins Bergwerk.

Doch dies bedeutete dennoch kein sorgenfreies Leben. In den Jahren 1770 bis 1772 kam es wetterbedingt zu einer großen Hungersnot. Ein Seiffener Chronist schrieb in sein Tagebuch „1771 den Monat May hat das Korn 5 Thl 8 Gr. gosten. Es ist grose Noht bei den Leuten […] 1772 […] ist eine grose Hungers[not] gewesen dass die Leute alles haben missen verstoßen und sind fast Hungers gestorben.“ Diese Hungersnot wütete auch in den Nachbarländern, sodass es nicht möglich war, Lebensmittel aus Böhmen zu beziehen. In Seiffen und Heidelberg starben 1771 41 und 1772 gar 136 Menschen. Ansonsten waren es 20 bis 30 Tote jährlich in diesen Orten.

Im Lauf der Zeit gerieten die Holzdrechsler zunehmend in die Abhängigkeit der Verleger. 1818 erfuhr die sächsische Regierung, dass Verleger – in Seiffen gab es zu dieser Zeit zwei und in Grünhainichen vier – Drechsler und Spielwarenmacher statt mit Geld mit Brot und Lebensmitteln auszahlten. Die Regierung tolerierte diese Methode zwar, denn man sah darin eine Möglichkeit, nach dem Schlechtwetterjahr 1816, in dem die Sonne kaum schien und so die Ernte im Gebirge ausfiel, und dem folgenden Hungerjahr 1817, Lebensmittel auf die Tische einiger Familien im Erzgebirge zu bringen. Allerdings mussten Verleger, die den Drechslern einen zu geringen Gegenwert gaben, sehr hohe Strafen an die Armenkasse zahlen. Diese Verleger nannten die Drechsler Blutsauger.

Ein Armenhaus hatte jedes Dorf im Seiffener Winkel. Denn hier war die Wahrscheinlichkeit, in Armut zu verfallen besonders hoch. Während Bauern stets neue Nahrungsmittel erzeugen konnten und so auch die alte Generation, die im Auszugshaus wohnte, auf dem Hof den Lebensabend verbringen konnte, waren die Menschen im Seiffener Winkel, wie in den Städten auch, hauptsächlich in nichtagrarischen Berufen tätig, die kaum eine eigene Lebensmittelproduktion zuließen und deren Tätigkeiten oft von Angebot und Nachfrage ihrer Erzeugnisse abhing. So geschah es schnell, dass Leute ihr Dasein im Armenhaus fristen mussten. Sie bekamen zwar das Notwendigste an Essen und Kleidung, ansonsten mussten sie sich jedoch gegenseitig helfen und im Krankheitsfall auch versorgen.

Während der „Spielwarenkrise“ 1843, als angeprangert wurde, dass Holzspielzeug mit giftigen Farben behandelt wurde, protestieren 158 Drechsler und Spielwarenmacher vor dem Schönberg’schen Gericht in Neuhausen, unter anderem gegen die uneingeschränkte Gewerbefreiheit, die es ermöglichte, dass Knaben bereits ab 14 Jahren sich als Drechsler selbstständig machen und auf eigene Rechnung verkaufen können. Dadurch verschärfte sich nicht nur der Preisdruck, auch die Qualität der Erzeugnisse sank. Zur Bildung einer Genossenschaft kam es jedoch noch nicht.

Die meisten Drechsler waren „Haus-Industrielle“, die mit ihren Familien und eventuell noch Hilfskräften (beispielsweise einer Malerin) in ihren Wohnungen arbeiteten. Die Drechselbank und das notwendige Werkzeug gehörten ihnen und sie mussten auch das Rohmaterial selbst kaufen, wenn es ihnen nicht vom Verleger bereitgestellt wurde.

Mit der Herausbildung der Fabriken wurden die hier angestellten Drechsler und Spielwarenmacher zu Lohnarbeitern, die keine eigenen Produktionsmittel besaßen. Darüber hinaus gab es noch eine große Zahl an Heimarbeiterinnen, die sowohl für die Fabrik als auch für die Hausindustriellen Arbeitsgänge wie Bemalen oder Leimen zu Hause verrichteten.

Die Reifendreher betrachteten sich selbst als Unternehmer, denn sie verkauften ihre Reifen auch an Drechsler, die das Massenprodukt weiter bearbeiteten oder an Personen verkauften, die sich mit der Fertigstellung durch Beschnitzeln und Bemalen der Fertigprodukte ihr Geld verdienten. So bekam ein Ehepaar, 78 und 75 Jahre alt, um 1900 den Auftrag, 1000 Schock Tiere aus Reifen zu fertigen. Sie erhielten dafür 5 Pfennig pro Schock. Davon mussten sie jedoch 4 Pfennig pro Schock (1 Reifen) an den Reifendreher zahlen. Sie begannen am Dienstag und wollten am Mittwoch der Folgewoche fertig sein. So verdienten sie 10 Mark in dieser Woche. Bei einem „besseren Schnitzer“ beträgt der Wochenverdienst 15 bis 16 Mark, wenn er mit seinen zwei Töchtern arbeitet. Dem Verfasser ist es darüber hinaus wichtig zu betonen, dass der Mann ein Feldgrundstück, Kuh und Ziege besaß und ländliche und häusliche Arbeit nebenher besorgt werden musste.

Dem Broterwerb, ganz gleich ob Glasmacher, Bergleute oder Drechsler, ging eine harte Arbeit voraus. Aber Albert Wendt, der Direktor der der Fachschule Grünhainichen, schreibt 1904, dass man die Arbeit oft auf Kosten des Vergnügens unterlässt und man von einem „blauen Montag und gar Dienstag spricht, glaubt er nicht. Es sei richtig, dass man der Freude breiten Raum lässt, aber nicht, dass man die Tage verbummelt. Die im Jahr 1900 in Seiffen geborene Frau Elly Kempe verheiratete Drechsel arbeitete ebenfalls bereits im Kindesalter. Sie berichtete, dass man zwar früh zeitig mit der Arbeit begann, jedoch in der Dämmerstunde die Arbeit unterbrach, da die teuren Kerzen geschont werden sollten. In der Morgendämmerung nahm man ein Frühstück ein, während der Abenddämmerung gab es eine Vesper. Dabei wurde auch ein Schnaps getrunken.

Die eingeschossigen Wohnhäuser stehen verstreut in den Tälern und an den Hängen der Berge. Der durchgängige Hausflur trennt zwei Räume im Erdgeschoss. Auf der einen Seite befand sich eine großer Raum, in dem man wohnte, in dem aber auch die Drechselbank stand und der Tisch, an dem die Familie leimte, malte und schnitzte, aber an dem auch alle Mahlzeiten eingenommen wurden. Hauptnahrungsmittel waren eben Kartoffeln, Quark und Leinöl, aber auch andere, einfache Gerichte, wie Kartoffelpuffer, die im Seiffener Grund „Dansch“ und in Heidelberg „Griene Dalken“ heißen. Obst brachte ab und an die „Böhmische Marie“ aus der fruchtbaren böhmischen Ebene.

Hausindustrielle waren wie bereits die Bergleute und Glasmacher meist doppelberufig. Sie drechselten, hatten aber auch eine Ziege, eine Kuh oder ein Schwein und bestellten ein kleines Feld. So rangen sie dem kargen Boden noch ein paar notwendige Lebensmittel wie Kartoffeln, Beeren oder Kräuter ab.

Schulunterricht wurde in Seiffen bereits 1620 erteilt. Doch viele Kinder konnten nicht regelmäßig zur Schule gehen, da sie zu dieser Zeit in der Zinnseife des Eigenlehners helfen mussten. Später wurde die kindliche Arbeitskraft genutzt, um den Broterwerb der Familien des Hausindustriellen mit abzusichern. Es galt als selbstverständlich und notwendig, auch Kinder, nicht selten bereits ab dem 4. Lebensjahr, am Produktionsprozess zu beteiligen. Bereits 10-jährige Jungen arbeiteten an der Drechselbank.

So standen die Hausindustriellen dem 1903 erlassenen Kinderschutzgesetz ablehnend gegenüber. Es verbot die Mitarbeit von Kindern unter zehn Jahren. Ältere mussten von 8 bis 13 Uhr den Unterricht besuchen. Nach einer zweistündigen Pause „durften“ sie noch von 15 bis 20 Uhr beschäftigt werden. In den Ferien war eine Arbeitszeit von bis zu zehn Stunden täglich gestattet. In Zeiten der Not hatten oft die Kinder am wenigsten entgegenzusetzen. So wurden 1878 in Seiffen und Heidelberg 139 Kinder lebend geboren. Im gleichen Jahr starben 120 Kinder im Alter bis zu 14 Jahren, was eine Sterblichkeitsrate von 86,3 % bedeutete. Die Kinderarbeit wurde dennoch sehr schleppend verringert.

Nach dem 1. Weltkrieg verbesserte sich die soziale Lage der Menschen, wenn auch anfangs nur schleppend, so doch zunehmend. Die Qualitätserhöhung der Erzeugnisse, die in hohem Maße auch auf das Wirken der beiden Fachschulen zurück zuführen ist, verbesserten die Verkaufsmöglichkeiten der Produkte, die nun auch von den Drechslern selbst entworfen werden konnten. Auch die großen Aufträge an WHW – und vielen anderen Abzeichen sorgten für eine Verbesserung der Einkünfte und damit zu einer Verbesserung der sozialen Lage. Doch endete diese Zeit in einem schlimmen Krieg, bei dem zwar der Seiffener Winkel glücklicherweise den von Kampfhandlungen verschont blieb, aber dennoch waren auch viele Tote und Verwundete zu beklagen. Nach diesem Krieg konnte die Arbeit fast nahtlos fortgeführt werden. Ab den 70er Jahren stieg die Nachfrage nach nostalgischen Mustern und Weihnachtsartikeln vor allem auch im Ausland, sodass sich die soziale Lage der Hersteller wesentlich verbesserte.

Nach der Wende änderte sich ihre Arbeit dahingehend, dass sie nun die Aufträge nicht mehr allein von der DREGENO bekamen, sondern selbst auf Messen und Märkte fahren und auch ihre Erzeugnisse selbst gestalten müssen. Dennoch meisterten das fast alle mit guten Ergebnissen. Heute gibt es ein so breites Angebot an Seiffener Artikeln wie noch nie vorher. Allerdings ist zu bemerken, dass viele junge Leute in der Herstellung dieser Artikel nicht die Zukunft sehen, obwohl die soziale Lage der Produzenten der Seiffener Holzkunst sich enorm verbessert hat.

Nicht nur wegen des rauen Klimas und des kargen Bodens wurde dieser Teil des Erzgebirges als „Sächsisches Sibirien“ bezeichnet, es waren auch die harten Lebensbedingungen, unter denen sich die Menschen hier ihr tägliches Brot verdienen mussten. Am Anfang standen die Glasmacher, die den Holzreichtum und andere natürliche Rohstoffe nutzten, schon sie waren freie Menschen, wie auch die Bergleute und später auch die Drechsler. Allen ist gemeinsam, dass ihr Hauptberuf sie und ihre Familie nicht ernährte. So betrieben die meisten noch eine kleine Landwirtschaft.

Diese Doppelberufigkeit ist es, die bereits die Bergleute im Osterzgebirge und damit auch im Seiffener Winkel von den Bergleuten im Westerzgebirge unterschied. Im Silberbergbau des Westerzgebirges verdiente man genug, um sich in seiner Freizeit gar dem zeitraubenden Schnitzen widmen zu können. Die Bergleute im Osten des Gebirges bauten überwiegend niedrige Metalle ab, die sie nur selten gut verdienen ließen. Dennoch blieb seit etwa 1760 das Holzdrechseln bis heute die wichtigste Lebensgrundlage. Die Doppelberufigkeit der Bergleute und Drechsler bezeugten die Härte ihres Lebens. Dennoch gab es oft auch Zeiten, in denen bei aller Bescheidenheit gefeiert wurde und man Freude am leben hatte. Ein ständig gutes und relativ gesichertes Auskommen, und damit auch eine gewisse soziale Sicherheit, erzielten Menschen im Seiffener Winkel erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

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